Unter dem Gesetz

@fabiansteinhauer / fabiansteinhauer.tumblr.com

Zettelkasten, Schaufenster und Schirm
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Polobjekte

Warburgs Tafeln sind Grenzobjekte, diplomatische Objekte, minore Objekte (Letter) und Polobjekte.

Nichts davon erfindet er selbst. Die Tafel sind Polobjekte, weil sie Polarität operationalisieren können, also einen Umgang mit Polarität einrichten. Sie nutzen Polarität um den Umgang mit Polarität zu üben - mit Einrichten meine ich eine Instituierung, in der die Institution nicht das ist, was vorliegt und akzeptiert werden muss, das man nicht ändern könne und insoweit einseitig gegeben sei. Gabe ist es, wenn es mitgemacht wird und damit nicht bleibt, was es ist. Die Polarität des Polobjektes kann man mitmachen, muss man nicht, wenn man es tut wird sie sich wenden, trivial und trotzdem ohne festzuschreiben, was daraus folgt. Polobjekte sind polar und lassen polarisieren, lassen Polarität mitmachen. Das tun sie, weil sie etwas wenden, kehren oder kippen und im Nachvollzug alles das auch lassen, immer in allen Sinnen, allen Verständnisvariationen. Die Tafel lassen aus, unterlassen etwas, hinterlassen etwas, lassen im Sinne von ermöglichen und lassen im Sinne von Nicht-Tun. Man muss die Tafeln nicht wenden, sie wenden nicht immer.

Polobjekte, Grenzobjekte, diplomatische Objekte, minore Objekte: alles das begreiefe ich als Teil einer normativen und operativen, insoweit auch situativen Ontologie. Kurz gesagt: Nichts daran steht fest und hält den Platz des Wesens für die Zeit des Wesens besetzt. Alles was geht, geht, geht durch und vorüber, wir sprechen von technischen oder artifiziellen Objekten.

Man kann die Tafel 79 als Klapptafel benutzen, wenn man die Pathosformeln der linken Seite auf die Pathosformeln der rechten klappen oder umkippen kann, umgekehrt geht es auch. Dadurch wird die Pathosformel Begehren zur Pathosformel Verzehren, beide auch zur Pathosformel Verkehren. Das ist präzise, simpel, ist Bildtechnik und Ikonologie, sogar Sprachwissenschaft, weil Warburg damit die These entfalten lässt, dass vague Assoziationen präzise begehren, verzehren und verkehren können - schon weil der Begriff des Vaguen alle drei anderen Begriffe übersetzt und alle drei Begriffe Übersetzungen des Vaguen sind. Wie das phagein ins vagor kippt und das vgor ins Vague, das Vague ins Vogue, die Vogue ins Fagieren, das Fagieren ins Verkehren, weiter ins Begehren und weiter ins Verzehren und zurück ins phagein, so legen sich die Formen auf Formen und Formeln auf Formeln. Polobjekte hat Warburg nicht erfunden, Klappobjekte hat er nicht erfunden. Seine Frau Mary ist Künstlerin, die hat sie auch nicht erfunden, die Tabellen in der Bank, Saras Tabellen sind nicht Saras Erfindungen - auch die lassen als das, was Vismann noch Stellenwertsystem nannte, Stellen verstellen und damit das Begehren, Verkehren und Verzehren präzise begleiten.

Die Warburgs erzählen, dass dieses Klappobjekt seinen Anteil daran hatte, dass die Familien die Heirat der beiden akzeptieren konnten, herzlich waren alle, nur schienen die Widerstände so groß, die Türen zwischen orthodoxen Juden und Protestanten so geschlossen. An diesem Objekt kann man üben: auf und zu. Trivial und voller Wunder diese Karte, dieses Polobjekt, klipp-klapp: Auf und zu, es geht, muss aber nicht sein. Wenn man etwas kann, These!, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass man es muss.

1898 malt Mary und bastelt Mary das oben abgebildete kleine Polobjekte und Klappobjekt: Eine Postkarte mit geschlossenem und offenen Zustand, mit gemalten und fotografiertem Zustand (und Schrift auf der dritten Seite). Das ist ein Objekt, das nicht nur von einem offen Zustand in einen geschlossenen Zustand umkippen oder umklappen kann, das wendig ist und dessen Geschick darin besteht, kippbar zu sein (wie Fortuna). Die Karte steht nicht so, also ob sie stünde, das Polobjekte steht nicht so, als ob es stünde. Sie regen und lassen Regung mitmachen, sie reichen und lassen reichen mitmachen, tragen und lassen mittragen, trachten und lassen mittrachten. Sie verlängern und verkürzen, lassen anfangen und aufhören, vergrößern und verkleinern. Die Malerei kann dabei sogar in Fotografie umklappen, die Bilder können sogar in Schrift umklappen, aber das andere kommt nicht weg und ist dann nicht weg, das ist dann anders entfernt, vielleicht kommt es dabei sogar näher oder rückt durch die Entfernung ferner. Das ist reversibel, polar, Regung, in der Kehren, Kippen und Wenden vorkommen. Die Vorgänge beschreibe ich als Operationen. Ob Operation auch Kommunikation ist, das diskutiere ich gerade auch mit Natahly Mancilla Ordenes, wie man beides und ob man beides unterscheidet, welche Rolle die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Operation einmal spielen wird, das weiß ich im Moment nicht. Vielleicht später.

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Anfängerübung

1.

Von Anfang an anfangen und von Anfang an anfänglich sein: Ab heute unterrichte ich an der Bucerius Law School. Ich lehre zu forschen - und zwar anfänglich. Ich mache das, um Kontakt zu den Leuten zu bekommen, die um 2005 herum geboren wurden und jetzt anfangen, Rechtswissenschaft zu studieren. Das heißt, dass eine Kombination aus Pygmalion-Komplex und Zombieness mich antreibt: Man will Leute formen und ihre Frischheit anzapfen. Das ist der Deal, dafür gibt es Credit Points.

Die Bucerius Law School zahlt bescheiden, weniger als ein Viertel von dem, was man in der Schweiz für einen Lehrauftrag bekommt. Die deutschen Juristen sind die Weber des 21. Jahrhunderts, vielleicht sie vielen Textilmetaphern in der Branche deswegen so populär, weil sie zur Lektüre Trost spenden.

Gut, dass ich genug Geld anderswo verdiene und so großherzig bin, nicht wahr?

2.

Grundlagenforschung kann auch heißen, avanciert und ohne Rückendeckung zu arbeiten. Man muss nicht am und im Kanon arbeiten, nicht 'anschlussfähig' sein und nicht im Agendasetting miteilen. Die Adressaten der Arbeit müssen nicht die Alphatierchen-Silberrücken des Wissenschaftsbetriebes sein.

Rechtstheorie und Rechtsgeschichte kann man auch betreiben, in dem man sich mit stummen Routinen, Objekten und Bildern, mit Außenseitern und Unerschlossenem befasst. Das Material, das man erforscht, muss keine Rechtsquelle sein, die Autoren müssen nicht juristisch qualifiziert sein. Man kann auch andere Fragen als die nach der Geltung des Rechts stellen.

Inhaltlich befassen wir uns mit Warburgs Staatstafeln, also mit Bild- und Rechtswissenschaft sowie der Forschung zu juridischen Kulturtechniken. Die Teilnehmer sollen lesen, schreiben und denken (Markus Krajewski), fragen und recherchieren lernen. Sie sollen vor allem von Anfang an ihren (wissenschaftlichen) Apparat aufbauen.

Man muss nicht luxuriös studieren, kann das aber tun.

3.

Tafel 58 betitelt Gertrude Bing mit der kurzen Anmerkung: Kosmologie bei Dürer. Natürlich taicht der Sol Iusitiae dort auf - und Tafeln, die Polarforschung unter anderem als Forschung zu Formeln und Symbolen betreiben, die pendeln und in deren Bewegungen dann Kehren, Kippen und Wenden vorkommen (etwa, weil sie wiederkehren oder ihre Bedeutung umkehren). Polarforschung findet man hier auch als Forschung zur Geschichte und Theorie der Melancholie - und auf dem Bild Melencolia I gleich eine Reihe von Polobjekten.

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Verkehrung

Die ersten werden die letzten sein. Und wenn sie dann die letzten sind, werden sie die ersten sein.

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ist was sich zeigt ist was sich bewegt,

ist was sich bewegt ist was sich zeigt, alex hanimann

Neulettrismus: Alex Hanimann aus der Schweiz. Oben: ein Polobjekt, das in Drehung und als Drehung lesbar ist. Das ist ein Schreiben, dessen Grenzen mitten durch das Schreiben gehen und das Schreiben in dem Sinne zum Halbgeschriebenen machen. Ich würde gerne das Halbgeschriebene als das berücksichtigen, das zwar bei Friedrich Nietzsche auftaucht (und dann bei Peter Goodrich und Mariana Valverde treffend als Teil von Nietzsches Rechtstheorie gedeutet wird).

Genauer gesagt ist das Halbgeschriebene dort Theorie eines Rechts, das auch auf Tafeln geschrieben ist und an dem alles brechen können soll. Das Recht kann zum Beispiel brechen und gebrochen werde. Es gibt nach Nietzsche auch, besonders Edgar Wind greift das auf, den verbrechenden Souverän, den 'criminal god'. Heute entwerfen viele Autoren ihr Schreiben aus der Krise heraus, schon weil sie sagen, dass sie über Krisen schreiben und aus Krisen Schlüsse ziehen. Das ist dann kein Gott, kein Verbrechen im Sinne des Strafrechtes. Aber das ist ein Anstoß, ein Grund, ein anstößiger Grund - und etwas daran und darin soll brechen. Alte Zeiten sollen abbrechen, neue anbrechen - und was das heißt, das soll sprachlich brechen, darum verwendet man auch den Begriff Krise, denn Krise ist Kreischen oder Kreisen (wie der Berg oder die Ellipse kreist).

Das Schreiben kann brechen und gebrochen werden, die Tafeln können brechen und gebrochen werden. Von dort kommt das Halbgeschriebene, man kann sagen, das sei eine Idee von Nietzsche. Ich würde es gerne lösen, auch von Nietzsche ablösen, teils so, wie man jemanden ablöst und teils so, wie man jemandem etwas nimmt. Ich möchte es gerne stärker vom Brechen auf das Wenden, Kehren, Kippen beziehen. Weniger auf das Fragment zielend ziele ich eher auf Polarität.

Dazu passt mir jemand wie Alex Hanimann in den Kram, er arbeitet nämlich das Schreiben technisch und artistisch durch, und das auch noch mit Wörtern, Worten, Schriftbildern und Begriffen, die auch Rechtsbegriffe sind, auch wenn das mal größer und mal kleiner auffällt (weil es mal mehrerer und mal weniger Übersetzungsschritte bedarf).

Zwar zeigen auch Urteile was, manchmal muss das aber über Zeugen gehen, um Zeugen auch als forensischen Begriff oder Begriff der Urteilskraft, des Rechtsgefühls ( der sinnlichen Wahrnehmung des Rechts) oder des Judiz zu bezeugen, um also überzeugend zu zeigen, das Zeigen eine juristische Technik und eine juridische Technik ist).

Manchmal muss man überzeugend zeigen, dass Zeugen und Zeigen verwandt sind - und trotzdem nicht gleich eins, schon weil Differenz vorgeht und weder Kontraktion noch Distraktion stoppt, nur weil an einer Stelle einmal was gezeigt wird und Zeug ist. Selbst wenn das Recht mal einen Ursprung hat, so wie Kunstwerke den haben sollen, dann bleibt damit die Frage nach der Restitution gestellt und weiter auch beantwortbar, als an und durch und mit anderen Stellen beantwortbar.

Mal muss man nur Carl Schmitt zitieren, um deutlicher zu machen, das Bewegung ein rechtshistorischer und rechtstheoretischer Begriff ist, manchmal reicht das nicht, und dann muss man eventuell noch Thomas Hobbes oder Aristoleles oder aus irgendwelchen Urteilen, Akten oder Motiven des Gesetzgebers zitieren (also die Auslegung vorzeigen). Mal reicht Aristoteles Onassis, um zu zeigen, wie er das Recht bewegt hat, mal Aristoteles alleine. Manchmal muss man den Leute noch ein Lexikon vor die Nase halten, um zu zeigen, dass Motive Motivationen sein sollen und beides Bewegungen. Manche Leser sind eben wendiger als andere, andere sind es weniger. Manche wollen auch gar nicht, dass sich was wendet, während es andere ganz ok finden oder geradezu begehren. Manchmal muss man den Leuten was um die Ohren hauen, damit sie endlich mal was wahrnehmen.

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Polobjekte

Man kann Geschichte und Theorie des Rechtes als Geschichte und Theorie der Trennungen und Austauschmanöver entwerfen, als Geschichte und Theorie der Beständigkeit und Stabilisierung und als Geschichte und Theorie der Unbeständigkeit oder Meterorologie. Ich glaube, dass eine Reihe von Geschichten und Theorien sich auf eine Seite geschlagen haben, warum nicht. Ich glaube, dass das eine Seite inwendiger Selbstbehauptungen ist. Man unterscheidet was, begibt sich auf die Innenseite der Unterscheidung und internalisert sie. Warum nicht. Vielleicht ist es so, dass es in Deutschland eine Schlag gibt, der mit einer Geschichte Deutschlands zu tun hat, etwa dem dem Preußischen Staat, seinen Wissenschaften, seinem Weber und auch seinem Luhmann. Es kann sein, dass Luhmann sich auf eine Seite geschlagen hat.

Die l'uhmannistische Geschichte und Theorie des Rechtes ist auch Evolutionstheorie - und wird im L'uhmannismus unter anderem durch vier Medien erläutert, nämlich die Sprache, die Schrift, den Buchdruck und den Computer. Bei dreien davon ist die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Trennung und der Vermehrung und Vergrößerung von Trennung (etwa im Hinblick auf eine Steigerung von Komplexität) gerichtet. Die l'uhmannistische Differenzvermehrungvorstellung ist auch Teil einer Geschichte der Differenzierung, die als Ausdifferenzierung verstanden wird. Das Recht wirkt dadurch wie gründlicher und gründlicher geworden, jeweils gegenwärtig auf der Höhe der Zeit. Erst beim letzten Medium, dem Computer, wird diese l'uhmannistische Vorstellung melancholisch: ihr fehlt nun etwas, was sie hat und räumt die Möglichkeit ein, dass Ausdifferenzierung verlustig gehen kann.

Das ist alles gut dargestellt, gut durchdacht, das hat ein Ziel und peilt es an, gut so. Um so mehr interessiere ich mich aber für eine Geschichte und Theorie des Rechts, die an Austauschmanövern hängt, sogar an schwindeliger Bewegung, also an halbseidenen Wechseln und Verwechslungen, an Unbeständigkeit oder Meteorologie.

Die Abwägungen des Bundesverfassungsgerichtes sind kritisierbar, aber eines ist an ihnen besonders interessant: nämlich gerade das, was Luhmann eine vague Assoziation nennt und für einen Mangel hält, der abgestellt werden müsste. Das ist nur ein Beispiel, dabei eines, das eher von meiner Erfahrung als Anwalt (lange ist das her) als von der Erfahrung eines Akademikers lebt. Der Anwalt hat mit fehlender Systematik nicht so große Probleme, ganz im Gegenteil, sie beflügeln, und nicht nur das Geschäft.

2.

Warburgs Rechtswissenschaft ist Teil seiner Polarforschung und die Polarforschung ist Teil seiner Rechtswissenschaft. Man kann sagen, dass das seit den Anfängen so ist, also seit 1896. Immerin beginnt er seine (autodidaktische) Rechtswissenschaft nach der anthropologischen Erfahrung 'kleiner Trennungen', der Erfahrung einer magischen Rationalität und einer tänzerischen Erfahrung. Er beginnt auf einem Schiff, auf Wellen und auf Wasser. Anderseits wird der Zusammenhang zwischen Polarforschung und Rechtswissenschaft aber erst 1912 öffentlich explizit, mit dem berühmten Vortrag in Rom.

Greift man Warburgs Anregungen auf, dann sollte man meines Erachtens andere Objekte, Medien und techniken aufgreifen, als man sie l'uhmannistisch aufgreifen würde. Entweder nicht Sprache oder aber ein anderes Sprechen, entweder nicht Schrift oder ein anderes Schreiben, entweder nicht Buch oder ein anderes Lesen, entweder nicht Computer oder eine andere Vernetzung: auf so eine Suche würde ich mich begeben.

Warum nicht aus Nehmen-Teilen-Weiden erst ein Scheiden- Schichten- Mustern machen und dann ein Kehren- Kippen- Zehren. Warum nicht einmal schätzen, messen, zählen, mustern, schichten und skalieren? Wenn man an Trennungen und Austauschmanövern gleichermaßen interessiert ist, können solche Techniken und Medien interessant werden, die auch beides tun, aber beides in Wendungen, Drehungen, Kehren und Kippen tun, die nicht deswegen unbeständig sind, weil in ihnen das Wissen leer wird. Die sind unteranderem deswegenn unbeständig, weil Gewissheit und Ungewissheit Kontakt halten, ihren Kontakt nicht verlieren. Man kommt in Wissen nicht rein, weil man nicht raus kommt. Keine Vergößerung ohne Verkleinerung, keine Vermehrung ohne Verminderung.

3.

Fragen der Zeitmessung liefern ein Modell für die Suche nach solchen Medien und Techniken. Die Objekte die dort auftauchen, sind Stäbe, Kugeln, Tabellen: Objekte, die Drehungen ermöglichen indem sie Drehung zumindest Wort und Bild, Orientierung und Handlung geben. Polobjekte sind Objekte im Umgang mit Polarität, die nicht als das Inkommensurable ausgeschlossen werden soll. Dass die Erde sich um einen Achse dreht, das ist nämlich gar nicht so schlimm, dass man es stoppen müsste. Eigentlich ist es sogar ganz gut, dass sie Licht und Schatten hat - und sich beides immer verschiebt, natürlich ins Uneigentliche mit hinein. Dass etwas erscheint, ohne mit der und in der Gegenwart etwas anfangen zu können, weil es schon Entfernung braucht, um einen Anfang markieren zu können, und dass etwas entfernt wird, ohne zu verschwinden, die Unbeständigkeit noch der phänomenologischen Erfassbarkeit - das ist alles nicht so schlimm, als dass man es gleich platt machen müsste. Dass sich Differenz nicht auflösen und nicht tilgen lässt, ist nicht so schlimm, als man sich irgendwann auf eine Seite schlagen müsste.

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Planissphärium Bianchini

1.

Das Planisphärium Bianchini erwähnt und zeigt Aby Warburg unter anderem in dem Vortrag, den er 1925 zum Gedächtnis an seinen Freund Franz Boll hält und der unter dem Titel per monstra ad sphaeram publiziert und bekannt wurde. Diesen Vortrag kann man unter anderem in einem Dreieck verorten, dessen anderen beide Koordinaten Warburgs Vortrag zum Schlangenritual und Conrad Borchlings Vortrag über Rechtssymbole (u.a. Boten- und Richtstäbe) bilden. Tut man das, hat man eine Konstellation, die sich mit Warburgs Überlegungen zum Verhältnis zwischen Ordnung und Unbeständigkeit befasst, und die selbst wohl auch nur nicht als ordentlich und unbeständig ist (denn man könnte diesen Vortrag auch auf andere Koordinaten beziehen). Mir kommt es besonders auf den Polarforscher und Rechtswissenschaftler Warburg an, darum ist diese Konstellation für mich besonders interessant.

2.

Warburg sagt in dem Vortrag, dass dieses Objekt ein "astrologisches Würfelbrett" gewesen sein könnte und bezieht es damit auf eine Anregung, die er 1910 Franz Boll gegeben hatte. Der hatte ihm nämlich die Abbildung eines Objektes, einen "Zwanzigfächner", einen Ikosaeder zugesendet, "dessen kleine Dreieckseiten mit Tierkeisbildern und Buchstaben versehen sind."

Franz Boll hatte das Objekt ein kleines Denkmal genannt und als Amulett gedeutet. Warburg hatte es aber als Wahrsagerwürfel gedeutet, also als Abbildung eines Objektes, an dem etwas in die Hand zu nehmen, zu werfen und dann zu deuten ist - und das der Prognose dient, dem Umgang mit einer Zeit , die ungewiss und unbeständig ist. Boll hatt Warburg ein Abbildung, also ein zweidimensionales Objekt zugesendet. Wenn Warburg diese Fläche als Würfel deutet, kann man sich diese Fläche wie einen Bastelbogen vorstellen, der auszuschneiden wäre und dann in einen Würfel umgefaltet werden müsste. Oder aber diese Fläche ist wie ein Spielbrett, also derjenige Teil des Objektes, der zwar nicht geworfen wird, mit dem aber gewürfelt wird, weil auf ihn gewürfelt wird.

DieZeit ist nicht leer. Nicht ohne Geschichte, ohne Raum und nicht ohne Körper kommt sie vor und erscheint sie. Ihr Bestand und ihre Bestände bewegen sich auf eine Weise, in der Gewissheit und Ungewissheit vorkommt. Der Würfel operationalisiert eine Bewegung, die auch eine Bewegung der Zeit und des Raums, von Körpern durch die Zeit und den Raum sein soll, auch eine Bewegung von Zeiträumen und Spielräumen.

Der Würfel operationalisiert einen Zeitraum und einen Spielraum - so operationalisiert der Würfel auch das, was Warburg einen Denkraum nennt: durch Distanzschaffen wird Wort und Bild gegeben, wird Orientierung und Handlung möglich. Der Umgang mit dem Ungewissen soll möglich werden.

3.

Das Planisphärium Bianchini deutet Warburg wie gesagt als Würfelbrett, also ebenfalls als ein Objekt, mit dem eine Bewegung operationalisiert werden soll, die unter anderem von Ungewissheit gezeichnet ist. Solche Objekte sind kleine, mindere Tafeln, man kann sie als Tabellen verstehen. Sie sind in ihrer wendigen Anwendung den Uhren und den Globen (oder den Astroloabien) verwandt, verfolgen unter anderem auch das Ziel, im Verlauf von Zeit und Raum das einzurichten, was Warburg den Denkraum nennt. Soll ich mich bewegen und wenn ja wie, also etwas: wann von wo nach wo? Das sind so Fragen, die sich stellen, wenn man mit diesen Objekten hantiert. Das sind Kulturtechniken, denen auch die Rechtsgeschichte und die Rechtstheorie Aufmerksamkeit schenk - unter anderem durch die Überlegungen zur "Enteignung der Wahrsager", die Marie Theres Fögen angestellt, die also zuerst historisch ausgerichtet erscheinen. Auch die Rechtstheorien, die sich mit der Position Walter Benjamins befassen, befassen sich mehr oder weniger direkt mit solchen Objekten, weil er von dem Versuch seiner akademischen Qualifikation bis hin zu den geschichtsphilosophischen Thesen seine Überlegungen zum Recht und zur Revolutionierbarkeit des Rechts, zum Verhältnis zwischen alten und neuen Lebensweisen an einem Material ausrichtet, in dem erstens (kleine) Objekte vorkommen und das zweitens wendig, kehrbar und kippbar sein soll, wie die Puppe, die Warburg der Tochter von Asja an dem Tag schenkt, an dem er im Kino "Nach dem Gesetz" sieht, wie der Schachautomat und sogar wie der Engel der Geschichte (einem Bild, das wie mit einem ironischen Treppenwitz selbst geschichtet war und dessen Schichtung der Literatur erst auffiel, als man im Material, im Papier Wellen entdeckte und darum darauf schloss, dass unter Klees Bild noch ein anderen Bild stecken müsste).

4.

Die Planisphäre ist eine frühe Tabelle, und weil sie eine Bewegung operationalisieren soll, in der erstens Kehren, Kippen und Wenden vorkommen und deren Herausforderung zweites in dem Umgang mit Unbeständigkeit liegt, nenne ich so ein Objekt ein Polobjekt.

Man würde es heute der Magie, dem Aberglauben, der Wahrsagerei zuordnen. Polobjekte wie der Globus, die Uhr oder das Astrolabium welche sind, würde man der modernen Wissenschaft zuordnen. Polobjekte sind sie aber alle, und alle Objekte ermöglichen einen gewissen Umgang, nur eben in genau dem Sinn, in dem man auch sagt, ein gewisser Meier habe angerufen: Die Ungewissheit, welcher Meier genau das war und was genau er eigentlich wollte, ist dann mitgemeint. Eine Uhr kann präzise sagen, wann die Mittagszeit wiederkehrt, aber was dann sein wird, ist bei der Uhr genauso ungewiss wie im Umgang mit einem astrologischen Würfelbrett. Man macht Termine für Montag den 11.9. um 12.00 Uhr, obwohl man gar nicht wissen kann, ob man dann in der Lage sein wird, diesen Termin wahrzunehmen. Im Hinblick auf eine erfüllte Rationalität sind Globus und Uhr auch nur Halbobjekte, auch halbseiden, was ja in Ordnung sein kann, vor allem kann es rational sein, auch damit umzugehen.

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Bewegung über Messe(n)

1.

Ich weiß nicht, ob Martin Knollers Knüller in der 'Mitte' der Abteikirche von Neresheim irgendetwas stabilisiert oder restabilisiert. Ich weiß nur, dass es ein elliptisches Bild ist, das eiert (ab ovo) und kreist und Figuren zeigt, die sich in meteorologischen Lagen, nämlich in, auf, unter und neben Wolken versammeln. Meine These ist, dass diesem Bild die Stabilisierung und Restabilisierung nicht so am Herzen liegt, nicht so, wie es die Unbeständigkeit, also auch das Instabile tut.

Und ich weiß, dass das ein verspätetes und hochbarockes Objekt ist, durch das Bewegung gehen soll, und zwar Bewegung über Messe(n). Das ist ein Deckengemälde in einer Messehalle, also demjenigen Typ römischer Gebäude, die Mehrzweckhallen waren, in denen die alten Götter keine Plätze, keine Tische und Stühle reserviert hatten und die darum der neuen Religion, der römischen-katholischen (deren praktisches Regime als hohl oder völlig offen galt und das sich angeblich darum das römische Recht wie einen Ersatz praktischer Regeln einverleibt haben soll) leicht zugänglich, nutz- und besetzbar waren. Basilika hießen diese Hallen.

Knollers Bild ist ein Polobjekt. In der Bewegung, die durch dieses Bild gehen soll, kommen nämlich Kehren, Kippen und Wendungen vor. Das Bild macht Verkehr und Verkehrung möglich, es lässt begehren und es lässt bekehren, es lässt verzehren. Knoller hat diesen Kehren, seinen Kippen und den Wendungen vier (kosmologische) Stationen eingerichtet, die auf besondere Weise Zeiten und Räume verknüpfen, nämlich so, wie Himmelrichtungen oder Jahreszeiten es tun. Das Bild hat vier Stationen, vier stationäre Stellen, es ist aber eine Passage, durch die Bewegung gehen soll. Die vier Stellen sind vorübergehende Stationen in durchgehender Bewegung. Alle vier Stationen erscheinen wie Scheitelpunkte, an ihnen wird eine Kurve zu einer Kippe, wie es Sterne tun, wenn am Himmel etwas kippt, wenn etwa bis zur Johannisnacht die Tage länger, ab da aber kürzer werden. Dieses Objekt istzar nicht tabellarisch organisiert, aber elliptisch. Warburg oranisiert Tafel 79 tabellarisch und elliptisch, also auch kreisend.

Das Foto oben habe ich darum viermal gedreht, um diese vier Stationen zu markieren, wie Knoller das schon tat. Das Protokoll dieses Bildes besteht nicht nur darin, betrachtet zu werden, sondern den Zug, der eine Betrachtung ist, als Bewegung mitzumachen, in der Kehren, Kippen und Wenden vorkommen. Anders gesagt: Betrachtung heißt hier nicht nur, die Augen aufzusperren, um etwas hineinzulassen und sich dabei was zu denken. Das Trachten ist auch eine Technik, Körper ziehen zu lassen, bewegen zu lassen. Der Körper muss sich in Betrachtung mitziehen lassen. Würde man zu der Bewegung ein Prokoll zeichnen, wären die Linien darin auch verdreht oder verkehrt (umgekehrt). Die Linien, die Betrachtungen zeichnen, die also 'das Trachten trachten', die nennt man Protokoll, das ist ein Bewegungsregime.

2.

Durch das Polobjekt soll Bewegung gehen, in der Kehren, Kippen und Wenden vorkommen. Meine These ist, dass Warburgs Polobjekte an einer Technik hängen, die man als Technik 'vaguer Assoziation' (Luhmann) beschreiben kann. Luhmann kommt in seinem Zettelkasten im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Gleichgewicht (wie etwa die kontrafaktische Stabilisierung, von der er spricht, eines bräuchte) und zur Mchanik auf die Formulierung 'vague Assoziation'. Luhmann spricht das Wort aus, wie man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Er sagt das so, als sei das nichts. Das heißt, dass er die bisherige Literatur als vague Asssoziation zu dem, was er sucht beschreibt und meint darum suchen zu müssen. Das stimmt schon. Wenn man etwas als Grund seiner Suche betrachtet, dann ist das ein guter Grund, zu suchen. Aber man kann es sicher auch anders sehen, und weil ich nicht ans Nichts glaube, glaube ich, dass vague Assoziation etwas ist, sogar etwas sehr Präzises, sehr Verbindliches und sehr Verbindendes. Vor allem diejenige Bild- und Rechtswissenschaft, an der Warburg zwischen 1896 und 1929 arbeitete, hat dafür entscheidende Arbeiten geliefert.

Luhmanns 'vague Assoziation' betrachte ich in ihrer kulturtechnische Dimension, also als Technik, die assoziiert (Verbindungen und Verbindlichkeiten schafft) und die vague ist. Dafür gibt es schon Begriffe, nämlich verzehren, verschlingen, vagire, fagieren, kreisen, wägen, wogen, wagen: als alle die Techinken, die vague und Vagues oder etwas vogue oder Vogue machen, die Wellen machen. Meine These ist, dass dies die Vorgänge sind, durch die bewegung geht, in der Kehren, Wenden oder Kippen gehen, sogar so, dass darin Subjekt und Objekt der Bewegung mitgehen. Solche Bewegungen müssen weder stabil sein noch stabilisieren, sie können meteorologisch, also unbeständig sein.

3.

Bewegung über Messen: Durch das Deckgemälde von Knoller geht nicht nur Bewegung über Messen, weil es an der Decke einer Messehalle positioniert ist. Das Gemälde macht die Messe und das Messen auch zum Gegenstand, es hat die Messen und das Messen zum Gegenstand. Ob das Gemälde das reflexiv hat, ist nicht sicher. Denn das Objekt ist ja Teil einer Messehalle, es ist ja Teil der Messe, muss zur Messe also nicht im Verhältnis von Objekt und Subjekt, Form und Inhalt oder Gegenstand und Geist stehen. Es kann auch schlicht im Verhältnis Form zu Form die Messe zum Gegenstand haben oder machen. Rekursiv wird das Verhältnis dann sein, reflexiv muss es nicht sein.

Das Gemälde macht die Messe/ das Messen zum Gegenstand, unter anderem als Missio(n), also unter anderem als (Be-)Kehrung. Das Gemälde macht auch die Polarität zum Gegenstand, weil es ein Polobjet ist, nicht weil es darüber nachdenkt, was Polarität bedeutet, welchen Sinn sie macht und welchen Inhalt sie hat. Sie hat vermutlich gar keinen Halt, auch keinen drinnen, auch keinen Inhalt. Durch sie geht Bewegung, die meteorologisch sein kann.

4.

Ein Objekt, durch das Bewegung gehen soll, nur gehen soll, aber nicht gehen muss, das ist ein unsicheres Objekt, aber ein normatives Objekt und ein Objekt, dessen Material wie ein Gerücht ist. Die Leute unterscheiden die ' Konjunktivität' von der Normativität, aber nicht alle tun es, Bachofen, Luhmann, Möllers und ich (Kicher! was Direktor Futsch wohl dazu sagt) tun das auch, aber nicht groß.

Warburg, wie Benjamin, interessiert sich dafür. Warburg als Polarforscher und Kreditberater, Benjamin als jemand, der an einer Praxis forscht, die er in einer Randbemerkung zu seinen geschichtsphilosophischen Thesen magisch und mantisch nennt. In Wirklichkeit haben sich Warburg und Benjamin nicht getroffen, obwohl Benjamin die Initiative ergriff. Sie haben sich aber an Texten, Tabellen, an skalierbaren Tafeln, unter anderem an den Arbeiten von Franz Boll getroffen.

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Traverse Board, 18th -19th century

Simple traverse boards were used in northern Europe by the 16th century to keep a record of a ship’s movements. They were circular and had a series of holes along lines marking the 32 points of the compass. Pegs were attached to the board by string and placed in the correct hole for the course being steered, normally one hole for each half hour of the watch, as measured by a sand-glass.

At the end of each watch the records were written down, usually by the ship’s master, and the pegs pulled out ready for the next watch.

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